Akzeptieren, zulassen oder nachvollziehen?
Februar 16, 2007
Gestern nach dem Training in Esslingen hatten wir anlässlich eines Textes, den Carsten verfasst hatte, eine interessante Diskussion. Carsten hatte in dem Text geschrieben, dass bei Aikido der Angriff eines Angreifers „akzeptiert“ (man beachte die Anführungszeichen, nicht wahr, Carsten? 😉 ) wird. Viele von uns fanden das Wort nicht so glücklich gewählt und auch (sorry Carsten 😉 ) die Anführungszeichen erwecken einen falschen Eindruck. Was pedantisch erscheinen mag, hat trotzdem einen Hintergrund, über den man nachdenken kann. Akzeptiere ich den Angriff wirklich? Wäre es beispielsweise richtig, den verbalen Angriff eines pubertierenden Neonazis zu akzeptieren? Momentan würde ich das verneinen. Ich würde sowas nicht akzeptieren wollen. Aber was meiner Meinung nach durchaus vorstellbar wäre, ist den Angriff erst mal (jedenfalls bis zu einem gewissen Grad – manchmal muss man aber wahrscheinlich auch einfach 100%ig irimi sein) zuzulassen und erst mal die Blickrichtung des Angreifers einzunehmen. Wo kommt er eigentlich her? Warum hat er es nötig, mich mit rassistischen Parolen provozieren zu müssen? Was bringt jemanden dazu, sich so zu verhalten? Und was kann getan werden, dass er sich das alles selbst und anderen nicht mehr antun muss? Letztendlich wäre doch genau das die Lösung, die Harmonie herstellt und den Angreifer gleichzeitig beschützt. Nicht dass ich behaupten würde, das in der Realität anwenden zu können, aber es kann ja nicht schaden, soetwas anstreben zu wollen.
Und das mit den Anführungszeichen hat in mir beim Lesen des Textes den Eindruck erweckt, dass man als Verteidiger nur so tut, als ob man den Angriff akzeptiert/zulässt, um dann hinterrücks zuzuschlagen, oder so ähnlich. Aber ich glaube (und da wird mir Carsten sicher Recht geben 🙂 ) dass man den Angriff mit ganzem Herzen zulassen muss. Sonst funktioniert das ganze einfach nicht. Genau wie bei einer Technik: halbe Sachen gehen meist in die Aikido-Hose. Ganz oder gar nicht. Um das aber mit ganzem Herzen machen zu können, braucht man wohl viel Vertrauen, Erfahrung und Gelassenheit, schätze ich. Naja, irgendein Ziel muss man ja haben, auch wenn es weit entfernt scheint…
Irgendwas hat gestern im Training bei mir klick gemacht. Ich habe mein Zentrum ziemlich stark gefühlt und eine stärkere Verbindung dazu aufgebaut. Schwer zu beschreiben, aber es war richtig geil 🙂 Daumen drücken, dass das keine einmalige Sache war!
Nachher im Auto sprachen Jules, Leoni und ich noch ein bisschen über die Lernprozesse, die man bei Aikido so durchläuft. Ich kann mich noch gut an die langen Plateau-Phasen am Anfang erinnern. Man hatte den Eindruck, über eine gewisse Zeit hinweg einfach keine Fortschritte zu machen und irgendwann dachte man sogar, dass sich die Technik wenn überhaupt dann verschlechtert. Das war meist schwierig, aber irgendwann fiel mir dann auf, dass diese Phasen immer die Einleitung zu einem Lernsprung waren. Der Eindruck, dass meine Technik schlechter wurde kam meist daher, dass mein Kopf schon Dinge verstand, die mein Körper einfach noch nicht umsetzen konnte. Trotzdem verstand ich eben mehr als noch ein paar Wochen zuvor, so dass mir meine Fehler natürlich mehr auffielen, obwohl sie nicht unbedingt zugenommen hatten. Dem gedanklichen Verständnis folgt dann ja zum Glück das körperliche Verstehen und Umsetzen und die Zeiten nach den Plateau-Phasen gehörten immer zu den besten auf der Matte. Je länger ich trainiere umso kürzer werden die Plateaus und umso gleichmäßiger wird das Lernen. Trotzdem gibt es immernoch Aha-Momente, bei denen die Kronleuchter angehen. Die liebe ich!!! 🙂
Sonja
Februar 24, 2007 at 11:47 am
Liebe Sonja,
das mit dem „akzeptieren“ hat bei mir auch noch einmal einiges in Bewegung gesetzt.
Die Frage ist tatsächlich, was wir da im Aikido tun. Handelt es sich wirklich um einen Kampfsport, eine traditionelle japanische Selbstverteidigungsmethode oder ‚nur’ ganz schlicht um eine Bewegungskunst? Wenn letzteres wahr wäre, dann könnten wir uns getrost bei einem Tanzverband anmelden, dort wären wir sicherlich besser aufgehoben.
Aber was hat es mit einer „Verteidigungstechnik“ auf sich, in der man anscheinend den anderen ‚zum Freund machen’ muss, um ihn wirklich gut werfen zu können.
Ist das nicht Arglist? Läuft das nicht darauf hinaus, den anderen eben doch nicht wirklich, sondern nur scheinbar zu akzeptieren. Dein Vorschlag mit dem „zulassen“ hilft in jedem Fall ein ganzes Stück aus dieser Sackgasse heraus und ich finde ihn sehr gut. Aber damit ist das Problem noch nicht wirklich gelöst.
Eines ist sicher, wir wollen im wahrsten Sinne des Wortes „Stand halten“ im Aikido. Das geschieht auch dann, wenn wir die Linie des Angriffs verlassen. Meist ist gerade dies sogar die einzige Chance, um sich nicht überrennen zu lassen.
Das berührt den Punkt, den wir mit den physikalischen Grundgesetzen angesprochen haben. Aber reicht das schon? M. E. ist die Haltung eben doch auch wesentlich und die drückt sich nur zum Teil in solchen naturwissenschaftlichen Gesetzen aus.
Aber will ich den nun als Aikidoka den anderen bezwingen oder nicht? Mache ich mir seine Perspektive wirklich voll (auch voll des Herzens) zueigen, oder spiele ich gewissermaßen nur mit diesem Motiv um den Aggressor überwältigen zu können?
Der klassische Soziologe Max Weber sagt, und seine Definition erfährt breiteste Zustimmung:
Macht bezeichne „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.
Also übt der Aikidoka in jedem Fall „Macht“ aus, denn seine Vereitelung der gegnerischen Absicht (mit aller Konsequenz) ist eine Form sich mit seinem eigenen Willen, gegen den des anderen durchzusetzen. Auch ich würde gerne mit einem Neonazi zu schunkeln anfangen und es gibt bei mir mit Inhalten wie Rassismus eine klare Grenze, wo mein ‚hineinfühlen’ weitgehend aufhört. Ich gebe dir aber recht, dass es selbst dann noch wichtig ist, den anderen zu verstehen.
Darüber hinaus tue ich mich schwer damit, dass wir im Aikido den Angriff, die Aggression, die Wut, mit ihrer ganzen transformierenden Kraft, vollständig ‚geskipped’ haben. Wollen wir wirklich immer einen Angriff mit ganzem Herzen zulassen? Das scheint mir bei einer Kampfkunst die ganzheitlich sein will, doch sehr widersprüchlich. Da wird eine Facette menschlicher Handlungsweise mit einem Mal abgeschüttelt, so als ob uns mit einem Angriff (Faustschlag, oder einem ordentlichen Fußtritt) nicht auch wichtige Mittel zur Verfügung stünden, die womöglich einen großen Kampf verhindern, die den anderen womöglich schneller und sicherer ‚zur Besinnung’ bringen, auch wenn die Mittel ihm wahrscheinlich erst einmal die Sinne rauben. Allein mit Gandhi gehen wollt ich heute jedenfalls nicht mehr und auch der hat die gewaltsame Selbstverteidigung der Feigheit vorgezogen. …
Soweit ein paar Anregungen von mir, mit dem Gedankenaustausch weiter fortzufahren.
Wirbelnde Grüße
Carsten
Februar 26, 2007 at 7:59 am
Lieber Carsten,
danke für deine Gedanken – genau für solch einen Austausch war dieser Blog gedacht! Du schreibst einiges, was mir selbst in den letzten Tagen zu diesem Thema durch den Kopf gegangen ist.
Du schreibst: Handelt es sich wirklich um einen Kampfsport, eine traditionelle japanische Selbstverteidigungsmethode oder ‚nur’ ganz schlicht um eine Bewegungskunst?
Ja, das ist eine wirklich gute Frage! 🙂 Wahrscheinlich wird diese Frage jeder anders beantworten. Für mich ist es eine japanische SV-Kunst, die weit mehr zu bieten hat, wenn man daran interessiert ist und sich der Dimension hinter der reinen Bewegung öffnet. Aikido lehrt mich immer wieder auf´s neue für das Leben, aber trotzdem ist es mir wichtig, die Effektivität und Technik im Training nicht außer acht zu lassen.
Du schreibst: Aber was hat es mit einer „Verteidigungstechnik“ auf sich, in der man anscheinend den anderen ‚zum Freund machen’ muss, um ihn wirklich gut werfen zu können. Ist das nicht Arglist?
Ich glaube hier haben wir die gleichen Meinung, haben uns aber vielleicht gegenseitig falsch verstanden oder ich hab´s schlecht formuliert (schlechte maai? 🙂 ). Ich denke auch, dass das Arglist wäre. Gleichzeitig finde ich aber auch, dass man sich den anderen nicht „zum Freund“ machen muss oder dass man sich die Perspektive des Angreifers völlig zu eigen machen muss. Dazu gleich mehr.
Du schreibst: Also übt der Aikidoka in jedem Fall „Macht“ aus, denn seine Vereitelung der gegnerischen Absicht (mit aller Konsequenz) ist eine Form sich mit seinem eigenen Willen, gegen den des anderen durchzusetzen.
Ich finde, genau hier liegt der Knackpunkt. Ich frage mich immer öfter, ob das Ziel sein sollte, meinen eigenen Willen loszulassen. Also damit meine ich jetzt nicht, willenlos zu sein 😉 Aber eben zu erkennen, dass mein Ego nur Täuschung ist und dass alles, was ich „will“ eben dieser Täuschung entspringt. Auf das Training übertragen würde das lapidar zum Beispiel so aussehen, dass ich mir fest vornehme, einen Irimi nage auszuführen, obwohl Angriff und Energie des Uke einen ikkyo viel angebrachter machen. O-Sensei sprach unter anderen mal davon, dass der Angreifer, sobald er angreift, schon die Harmonie des Universums gestört hat und demnach schon im Moment das Angriffs verloren hat. Ich verstehe das so, dass der Angreifer durch seinen Willen/seine Angst/seinen empfundenen Mangel (siehe mein Post über Subileau) sich als von der universellen Energie getrennt empfindet. Er ist nicht in Harmonie mit dieser Energie. Meine Reaktion als Nage sollte weder sein, dass ich seinen Standpunkt komplett annehme, noch dass ich meinen eigenen Willen dagegensetze (dann würde ich mich genauso aus der Harmonie des Universums rausnehmen wie mein Angreifer). Ich frage mich immernoch, wie die „richtige“ Reaktion im wirklichen Leben auf einen Angriff egal welcher Art aussehen sollte. Aber es muss mehr geben als nur die folgenden Möglichkeiten:
a) zurückzuschlagen
b) den anderen mit vorgegaukeltem Verständnis reinzulegen
c) ohne eigenen Standpunkt einfach immer alles durchgehen zu lassen.
Ich glaube, die Lösung dieser Frage wird mich noch lange beschäftigen. Vielleicht bin ich auch völlig auf dem Holzweg. Spannend finde ich all dies allemal.
Du schreibst: so als ob uns mit einem Angriff (Faustschlag, oder einem ordentlichen Fußtritt) nicht auch wichtige Mittel zur Verfügung stünden, die womöglich einen großen Kampf verhindern, die den anderen womöglich schneller und sicherer ‚zur Besinnung’ bringen, auch wenn die Mittel ihm wahrscheinlich erst einmal die Sinne rauben
Jep, genau das denke ich auch. So verstehe ich irimi. Man darf nie vergessen, dass es noch irimi gibt. Aber das passiert mir leider viel zu oft, weil ich auch im wirklichen Leben miserabel darin bin, irimi zu gehen, wenn es angebracht ist 🙂 . Seufz… Üben, üben, üben.
Vielen Dank für den Austausch Carsten, du hast mich wieder zum Nachdenken gebracht und es ist immer wertvoll für mich, meine Theorien und Hirngespinste mit anderen teilen und austesten zu können.
Liebe Grüße,
Sonja